India (Zweite Teil)

Aus dem Buch „Verabredungen im Wald“ .  Zweite Teil (von vier)

 

Tränen sind doch nichts…

Kaum bin ich vom Taxi ausgestiegen, schon wird dieses von der Strömung des Verkehrschaos weggerissen. Neben mir sind lauter Leute zu sehen; immer und überall. Sie gehen vorbei, verkaufen Sachen, starren ins Leere, schlafen auf dem Boden (es sei denn, der da ist tot). Hier haust das Elend in all seinen Facetten hier. Eine solche Sehnsucht nach Hoffnung ist zu spüren, dass Leute bereit sind, alles Mögliche anzubeten, sei es einen Gegenstand, einen Baum oder eine Statue, mit dem Wunsch, ihren Durst nach dem Göttlichen zu stillen. Hier ist eine Welt, die von den gut meinenden und gut denkenden Christen vergessen worden ist und überall sehe ich so viele verlorene Leute… wirklich so viele…

Während meiner ersten Nacht in Indien dringen laute Straßengeräusche durch die schlecht isolierten Fenster meines Hotelzimmers und reizen mein abendländisches Sicherheitsgefühl.

Gegenüber dem Ausmaß dieses Elends, von dem ich einen Schlag ins Gesicht bekommen habe, fühle ich mich absolut hilflos. Allein, auf meinem Bett sitzend, bete ich für dieses Land. Mein Herz ist zerbrochen. Ich kann diesen Leuten nichts bringen außer meinen Tränen, die an meinen Wangen entlang für sie abperlen… Jesus, mein stiller aber gegenwärtiger Meister steht neben meinem Bett und wird vielleicht etwas daraus machen… (?)

Reise zum Rande der Welt

Sobald Leute, die für mich verantwortlich sind, mich getroffen haben, ist das alte Klischee vom weißen Missionar mit dem Tropenhelm geplatzt. Hier wird die Missionsgesellschaft von Indern und für Inder geführt… Diese Menschen bringen mich durch den menschlichen Dschungel dieses Landes zu meinem nächsten Termin.

Wir reisen mit Science-Fiction (oder mit dem Zug, ist doch dasselbe). Die alte Tür des müde gewordenen Zuges ist sperrangelweit offen und ich setze mich als würde ich die Füße an einem Steg ins Wasser baumeln lassen, nur dass hier der Boden unter ihnen wegscrollt. Jederzeit warte ich darauf, dass mich ein Schaffner von hinten mit schweizerdeutschem Dialekt zurechtweist:

– Nein, verboten! Darf man nicht!!

Aber nein, hier behandelt man die Leute nicht wie Kinder. Cool. (Vielleicht sind wir doch in der Schweiz nicht so frei, wie überall verkündigt wird…?) Neben den Gleisen stehen Menschen, lauter Menschen… Was machen sie? Schauen sie zu, wie die Zeit vergeht? Sie lächeln gern, und ich sehe, dass es von Herzen kommt… (Jetzt aber bin ich mir sicher … ich bin doch auf einem anderen Planeten gelandet!)

Wir fahren an einer Mülldeponie vorbei, die kein Ende zu haben scheint. Leute leeren dort ohne die geringste Befangenheit ihren Darm aus. Einen Steinwurf davon entfernt sucht ein hungriges Kind in diesem übelriechenden Unrat seine tägliche Nahrung. Eine ganze Familie, die vor ihrer elenden Hütte steht, welche aus den hier liegenden Materialien errichtet worden ist, schaut mich stillschweigend an. So lebt die Mehrheit der Bewohner meines Planeten! Es ist unerträglich. Gut, dass mir die Tränen das Sehvermögen trüben.

Mit wütendem Herzen greife ich zu meinem Bleistift und zeichne ihnen einen Verzweiflungsschrei:

– Man hat euch nicht vergessen!! Ihr seid kostbar! Gott liebt euch, Sein Sohn ist unter Euch geboren!!! Nur Mut! (Eines Tages wird sie diese Zeichnung erreichen…)

Verfolgungen

Der Empfangsraum der Missionsgesellschaft ist eine fühlbare Oase des Friedens, die frei ist von der sonst allgegenwärtigen Bedrückung. Nicht nur ich werde mich dort mit der Organisation treffen, sondern viele Gemeindeleiter des Landes, die von überall her gekommen sind, wurden eingeladen. Einige von ihnen haben riesige Entfernungen zurückgelegt, um hierher zu gelangen.

Schon zu meiner Ankunft hatte man mir empfohlen, unauffällig zu bleiben, denn Indien brüstet sich zwar, das größte demokratische Land der Welt zu sein, aber die Redefreiheit sitzt immer noch im Wartezimmer. Die Inder glauben an das Kastenwesen. „Schlecht geborene“ Leute werden nicht mal wie Tiere angesehen und müssen Verachtung und Sklaverei erdulden. Die Armen bräuchten kein Geld, sondern ein Umdenken, um daraus zu kommen. Wenn sie erfahren, dass der Sohn Gottes höchstpersönlich sie liebt und ein einfacher Mensch wie sie geworden ist, dass sie in Seinen Augen von unschätzbarem Wert sind, ändert sich ihr Leben radikal und sie können sich von diesem Fluch befreien. Sobald sie nicht mehr daran glauben, dass sie einer niedrigeren Kaste angehören, fangen sie an, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Diejenigen, die zu einer hohen Kaste gehören, sind darüber empört, weil sie eine kostenlose Arbeitskraft verlieren und wiegeln die fanatischen Religionsgruppen gegen sie auf.

5000 Christen aus der Region von Odisha mussten mitansehen, wie ihre Häuser verbrannt wurden, ihre Frauen geschändet wurden und ihre Pastoren auf grausame Weise erdolcht worden sind. Die Familien, die entkommen konnten, durften im Dschungel „Zuflucht“ finden, aber dort wohnen andere Scheusale, wie z.B. Tiger und Krankheiten…

Die Verantwortlichen von verschiedenen Christengemeinden berieten sich: Sollten sie zu den Waffen greifen, um sich zu verteidigen?

Alle entschieden sich für die Gewaltlosigkeit, die Christus lehrt. Und sie beschlossen zu vergeben…

Es geht nächste Woche weiter…

main chemin Auderset

Während meiner ersten Nacht in Indien hatte ich eine Idee für ein Bild, mit dem man Jesus darstellen könnte, sodass eine Person, die nicht lesen kann und in ihrem Gepäck die westliche Kultur nicht vorrätig eingepackt hat, ihn begreift.

Der Geist des Schöpfers, der durch seine zwei Hände dargestellt wird, zeigt denjenigen den Weg, die ihn wirklich suchen. Es erfordert Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit, weil man Sein Handeln und Seine flüsternde Stimme im Stimmengewirr unserer Welt wahrnehmen soll.

Es erfordert auch einen weisen Weitblick, weil man erkennen muss, dass die kleinen einfachen Wege, die uns die Gesellschaft am Rande anbietet, verlockend und häufig betreten sind, aber am Ende ins Verderben führen. (Bild aus dem Comic Ach, du lieber Himmel 3)

 

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